
Martin Bissinger ist aktiver Wettkämpfer für K1 und Thaiboxen des La Familia Fightclubs in Halle (Saale). Dieser Text ist die Zusammenfassung der Interviews, die ich mit ihm im Rahmen meiner Feldforschung zu »Ökonomien der Gewalt« am 22. Juli und 28. September 2017 geführt habe. Das Foto zeigt ihn im Kampf auf der 8. La Familia Fightnight 2017 (c) Michael Pötzsch
Martin hatte, bis er achtzehn wurde, zwölf Jahre lang Fußball gespielt und fand danach über Freunde in seiner Heimatstadt Augsburg den Weg zum Kampfsport: Boxen und Thaiboxen. Seine Freunde waren, wie er, Mitglied der rechtsradikalen Partei »Der III. Weg«. Gemeinsam gingen sie Boxen, später sollte er zum Thaiboxen wechseln.
Durch den Wechsel zum Kampfsport wurde für ihn spürbar, was es bedeutet für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Er entwickelte einen »hohen Selbstanspruch«, weil er lernte, dass niemand anders als er selbst dafür verantwortlich war, wenn er seine Deckung vernachlässigte und einen Schlag ins Gesicht bekam. »Der Einzige, der Schuld dran war, wenn ich da was abbekommen habe, war ich selber.« Darin bestand für ihn der Unterschied zum Fußball. Der Unterschied zu seiner politischen Aktivität wurde ihm erst später bewusst.
Er wollte immer noch »die Welt zum Positiven verändern«: »Wenn sich alle Leute besinnen und ihre Gemeinschaft in ihrem Volk suchen, dann ist auf einmal der Weltfriede da und keiner hat Probleme mehr. So ist die Logik in diesen Kreisen.«
Doch letztendlich musste er feststellen, dass nicht alle in seinem politischen Umfeld das wollten, was er wollte. In der Szene wurde »die westliche Welt verteufelt als Ellenbogengesellschaft ohne Werte«, »Moral sei in dieser Welt tot«. Demgegenüber wuchs aber langsam seine persönliche Erkenntnis, dass es in der Szene »keinerlei Visionen gibt, wie eine neue Gesellschaft aussehen kann« und die Klientel auf den Sitzungen, Demonstrationen usw. alles andere als wertorientiert oder von moralischem Anspruch war.
»Irgendwann im Laufe der Jahre musste ich mir eingestehen, dass die Leute nicht das wollen, was ich will, das habe ich ganz zum Schluss erst so richtig reflektiert.«
Ihm wurde klar, dass er in diesem Klima und auf diese Weise nicht viel erreichen konnte und entschloss sich zum März 2016 aus der Partei auszutreten und einen Neuanfang zu wagen.
»Die Leute, mit denen ich auf die Straße gegangen bin, das waren einfach irgendwelche Alkoholiker, die anderen Leuten irgendwelche Moralpredigten gehalten haben. In diesen Kreisen ist es so – da wird deine ganze Identität dadurch bestimmt: du bist Deutscher. Du bist Deutscher und damit steht schon alles fest. Ich bin Deutscher, ja. Aber das ist nicht alles, ich hab Einiges mehr, das mich ausmacht, was ich bin.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er beim Kampfsport in einem weiteren Augsburger Verein, in dem in seine »Freunde« nicht gefolgt waren, neue Menschen kennen gelernt. Menschen mit einem ebenso hohen Anspruch an sich selbst wie er, mit Disziplin, Ehrgeiz und Respekt. Kein einziger von ihnen war deutscher Abstammung, aber alle waren sie irgendwie Freunde geworden.
»Ob der Deutscher war oder Türke […] da habe ich in keinem Moment drüber nachgedacht. Das sind meine Leute, das ist mein Team und die gehören zu mir.«
Er lebte zu diesem Zeitpunkt in zwei Welten: einer politischen und einer sportlichen. Er hatte seine ersten öffentlichen Kämpfe und benötigte Zeit für die Vorbereitung, für Arbeit an sich selbst. Er hatte »viel Zeit« in eine Politik investiert, die er, nachdem er sie von innen kennen gelernt hatte, nicht mehr tragen konnte. Er hätte diese Zeit »sinnvoller nutzen können«.
Im Thaiboxen fand er eine für sich sinnvollere Tätigkeit und einen neuen Zugang zu »Selbstüberwindung« und »Selbstverbesserung«, sein »Selbstbewusstsein« stieg; so sehr, dass er die Kraft fand, seinen Lebensentwurf und seine Aktivitäten grundlegend zu hinterfragen. Er entschied sich für den Sport und gegen eine politische Szene, die Wasser predigt, Wein trinkt und keine Verbesserungsvorschläge für diese Welt zu bieten hat.
Zurückblickend wurde ihm klar, dass er in einer sozialen und ideologischen Blase gelebt hatte: außen die werteverkommene Außenwelt und innen diejenigen, die das vermeintlich entlarvt hatten. Der einzige reguläre Kontakt, den er nach außen hatte, war gleichzeitig die Inspiration für seine Lernprozesse. Seine neuen Freunde und der Verein gaben ihm einen Blick nach draußen. Hier konnte er Menschen treffen, die ihm wichtig wurden und er konnte sich »einfach gut fühlen«, wenn er kämpfte.
Nach seinem Austritt aus der Partei, als Martin zum Studium nach Halle zog, suchte er einen Sportverein, um weiter an seinem neuen Traum zu arbeiten, im Kampfsport für sich erfolgreich zu sein. Er fand seinen Weg zum La Familia Fightclub, einem Verein mit deutschlandweitem Renomee unter Kampfsportlern und Fachpresse. Hier konnte er konnte weiter auf hohem technischen Niveau mit angenehmen Menschen trainieren.
Dabei begann er wahrzunehmen, »dass die Welt gar nicht so schlecht ist«, wie es ihm früher suggeriert wurde. Mit seinem Engagement an der falschen Stelle, sagt er heute, hat er sich damals in »seiner eigenen Entwicklung gehemmt«, hat dort keine Freundschaften gefunden, die für ihn nachhaltig und gut waren. Jetzt hat er aber Freunde im Kampfsport gefunden, die ihm wichtig sind und die wirklich zu ihm halten.
»So etwas habe ich in meinen ganzen sieben Jahren, wo man vermeintlich unter Kameraden war nie erfahren, nie.«
Auch der Clubleiter wurde für ihn eine starke und enge Bezugsperson. Als ihm die politische Vergangenheit seines neuen Wettkämpfer bekannt wurde, war es beiden wichtig, sich darüber zu verständigen. In einem persönlichen Gespräch einigten sie sich darauf, dass Martin im Club seine »zweite Chance« hätte, dafür aber nie wieder politisch aktiv werden dürfe. Für Martin, der mit dieser Vergangenheit und seinen eigenen Fehlern abschließen wollte, war diese Unterstützung eine Hilfe für die »Anbindung an eine normale Gesellschaft« für die er sehr dankbar ist.
Der Clubleiter, Mathias Weber, äußert sich in einer Verlautbarung vom 24.04.2018 zu diesem Thema wie folgt: »Jeder hat eine zweite Chance verdient und bei mir bekommt er diese! […] Das tägliche Auseinandersetzen mit Meinungen, Lebenseinstellungen, Kulturen, Glaubensrichtungen – das miteinander Reden, Streiten, Diskutieren und Lösungswege finden, genau das ist unsere/meine Arbeit, der wir/ich mich verpflichtet habe(n)!«
Für Martin haben Kampfsport und dieser integrative Ansatz eine Ausweg aus einer sinnlosen politischen Szene geboten. Viel mehr noch öffneten sie einen Weg zur Arbeit an sich selbst und der Möglichkeit, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen. Für ihn ist der wertschätzende Blick auf eine Zivilgesellschaft möglich geworden und die Einsicht, dass politischer Extremismus nicht sein Weg ist.
»[Die Welt] ist mit Sicherheit nicht perfekt, ja. Aber ich verändere die Welt nicht dadurch, dass ich in einer Neo-Nazi-Partei rumhänge, mein Leben vergeude. […] Ich komm mir sehr, sehr dumm vor, dass ich da mal war. […] Ich werde nie wieder, nie wieder, in diese Kreise reingehen.«
Martin Bissinger mit Clubbekleidung seines La Familia ein Jahr nach seinem Ausstieg aus der rechtsradikalen Szene